Donnerstag, 7. Oktober 2010

Interview mit #Necla Kelek und #Monika Maron: "Es herrscht immer noch Gedankenfeigheit" - #Debatte - #WELT ONLINE

Die Welt: 07:19|

Interview

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"Es herrscht immer noch Gedankenfeigheit"

Die Autorinnen Necla Kelek und Monika Maron über Gründe und Abgründe der Sarrazin-Debatte / Die Fragen stellte Andrea Seibel
Von Andrea Seibel
DIE WELT: Die Hysterie über Thilo Sarrazin hat sich ein wenig gelegt. Was genau ist da passiert?
Necla Kelek: Die reflexhafte und einhellige Ablehnung des Buches durch alle Parteien von der Regierung bis zu Linken ist schon einzigartig. Nachdem man den Autor arbeitslos gemacht hat, folgt die zweite Überraschung. Plötzlich reden sich alle Politiker das schlechte Gewissen in Sachen Integration von der Seele, um zu beweisen, dass sie jemanden wie Sarrazin nicht brauchen. Die Bundesregierung zaubert in Wochenfrist einen Integrationsplan aus dem Hut, der SPD-Vorsitzende poltert, die alte Garde der Partei und die Basis protestieren, und der Vorsitzende begibt sich - ganz langsam - auf den Rückzug. Gabriel redet plötzlich von strengen Strafen für Integrationsverweigerer. Aber es hat auch etwas Gutes. Die Notwendigkeit, über eine neue Sozial- und Bildungspolitik, über Integration und Islam zu sprechen, ist nun unbestritten. Doch ich sehe auch, dass die Mitverursacher der Integrationskrise - die Migrationsforscher, die Islamfunktionäre, die politischen Sozialarbeiter - sich im Moment wegducken und nur darauf warten, dass sich die Aufregung legt, um in ein paar Wochen an die Fleischtöpfe der Integrationsetats zurückzukehren. Auch bei den Politikern herrscht "Gedankenfeigheit", das heißt, der Mut fehlt, das Problem des Miteinander und der Zukunft unserer Gesellschaft von Grund auf zu analysieren, zu werten und dann zu beraten, was zu tun ist. Stattdessen müssen "Lösungen" her. Und wie die aussehen, ist bekannt.
DIE WELT: Wie kamen Merkel und auch Wulff dazu, sich derartig zu exponieren?
Kelek: Ich vermute dass die Kanzlerin dachte, sie bekommt das Thema "par ordre du mufti", also mit ihrer Richtlinienkompetenz, vom Tisch. Eine klassische Fehleinschätzung. Die soziale Realität lässt sich eben auf Dauer nicht von der Tagesordnung streichen, auch wenn man den Überbringer der schlechten Nachrichten vom Hof jagt. Thilo Sarrazin war es vorbehalten, den Bundespräsidenten, die Kanzlerin und die Bundesbank aus einer von ihnen verursachten hochnotpeinlichen Zwickmühle zu befreien. Sarrazin gibt sein Amt auf, um das Amt des Bundespräsidenten nicht zu beschädigen.
DIE WELT: Was sagen Sie zu dem immer wieder geäußerten Vorwurf, die Sarrazin-Debatte hätte die Integrationsatmosphäre vergiftet.
Monika Maron: Sarrazin und sein Buch haben die Atmosphäre nicht vergiftet, sondern überhaupt erst offenbart. Wenn jetzt Politiker und ein Teil der Medien behaupten, man hätte nicht Sarrazin gebraucht, um die Probleme der Integration zu erkennen, kann man nur sagen: umso schlimmer. Warum wird die Diskussion dann erst jetzt so offen geführt? Warum wurden Kritiker der Verhältnisse wie Necla Kelek und Seyran Ates als Hassprediger und kalte Krieger beschimpft? Warum hatte es Heinz Buschkowsky, der plötzlich als Lichtgestalt gegen Sarrazin herhalten muss, bislang in seiner eigenen Partei so schwer? Offenbar, weil weder die Politik noch die Medien von der Atmosphäre, die sich längst landesweit ausgebreitet hatte, eine Ahnung hatten. Die Atmosphäre war längst vergiftet, und die Debatte, die jetzt geführt wird, kann zu einem Prozess der Entgiftung werden, wenn endlich ernst genommen wird, warum die Menschen beunruhigt sind und worum sie fürchten. Die Bücher von Thilo Sarrazin und Kirsten Heisig haben den Bürgern eine Möglichkeit geboten, über die Integrationspolitik der Bundesrepublik abzustimmen.
DIE WELT: Hat es eine Stimme aus den Migrantenverbänden oder von Einwanderern gegeben, die Sie als hilfreich und klug wahrgenommen haben?
Maron: In den verschiedenen Talk-Runden wurden schöne, gebildete türkische oder iranische Frauen aufgeboten, die sich alle durch Sarrazin gekränkt fühlten, ohne dass ich im Geringsten verstehen konnte, warum, denn sie verkörpern ja die Integration, die er sich wünscht. Sie sind doch der Beweis dafür, dass jeder, der die Sprache beherrscht, der lernt, in unserer Gesellschaft alle Möglichkeiten hat. An meinem Eindruck, dass auf der muslimischen Seite die Bereitschaft und Fähigkeit zur Selbstkritik nicht sehr entwickelt ist, hat sich nichts geändert. Es bleibt vorwiegend bei Schuldzuweisungen und Forderungen an die deutsche Gesellschaft. Aber warum reden wir immer nur über die Muslime? Ich kenne eine Familie, die aus Polen gekommen ist. Sie wohnt in einem Haus, in das nach und nach immer mehr Araber eingezogen sind. Und weil die Kinder in eine Schule mit 80 Prozent Migrantenanteil vorwiegend aus muslimischen Familien gehen müssten, nehmen die Eltern jede Arbeit an und verzichten auf vieles, um ihren Kindern eine Privatschule zu finanzieren. Wir sind auch für diese Einwanderer zuständig.
DIE WELT: Hamburg, Sarrazin, Stuttgart 21 - entfernt sich die Politik immer mehr von der Durchschnittsgesellschaft?
Maron: Ich frage mich, ob Sarrazins Buch auch ohne seine anfechtbaren Teile so unglaublich erfolgreich geworden wäre und zu dieser lebenswichtigen Diskussion geführt hätte - oder ob es immer erst einen Skandal braucht, damit die Notwendigkeit zu handeln von der Politik anerkannt wird. Kirsten Heisig musste unter mysteriösen Bedingungen sterben, und Sarrazin musste sich im Dickicht der Humanmedizin verlaufen, um ein Klima zu schaffen, in dem unzensiert gesprochen werden kann. Diese neue Situation scheint einige Journalisten so zu verwirren, dass sie krampfhaft eine neue rechte Partei herbeizuschreiben versuchen, damit die Lage wieder eindeutig wird. Für mich sind diese Verfechter von Schleier und Kopftuch, die offensichtliche Missstände verschweigen oder beschönigen und Kritiker diffamieren, die eigentlichen Reaktionäre.
DIE WELT: Was ist für Sie deutsch?
Kelek: Seit 1995 bin ich deutsche Staatsbürgerin. Meine Eltern stammen aus Anatolien. Aber ich bin auch vom Verstand her inzwischen eine deutsche Bürgerin, besser eine "citoyenne européenne". Die deutsche Gesellschaft hat mich gelehrt, ein "Ich" zu sein, für meine Entscheidungen Verantwortung zu tragen, mich in die eigenen Angelegenheiten einzumischen. Ich habe mich in diesem Sinne aus dem autoritären Kollektiv der Türken und Muslime und von der Schicksalhaftigkeit des Lebens gelöst. Meine Gefühle, mein Glaube, meine deutsche und meine türkische Familie sind in meinem Herzen, und mein "Türkischsein" ist eine Bereicherung. Auch das ist, wie ich merke, deutsch, und, wenn man so will, säkular, weil man die Dinge voneinander trennt. Als Migrantin habe ich den großen Vorteil, zwei Kulturen zu kennen und vermitteln zu können. Auch das empfinde ich als Verantwortung, nämlich die Freiheit dafür zu nutzen, anderen einen Weg aus der Abhängigkeit zu zeigen.
Maron: Mir fällt auf, dass wir uns in der öffentlichen Sprachregelung nicht mehr unbefangen Deutsche nennen. Wir sind autochthone oder angestammte Deutsche oder Urdeutsche, aber nicht mehr einfach Deutsche. Wir sind auch nicht mehr die deutsche Gesellschaft, sondern die Mehrheitsgesellschaft. Das heißt, wir entwerfen sprachlich selbst die Parallelwelten. Wo eine Mehrheitsgesellschaft ist, gibt es auch eine Minderheitsgesellschaft. Wollen wir das? Deutsch ist, denke ich, wer die deutsche Staatsbürgerschaft hat, Deutsch spricht und dieses Land als sein Land ansieht, in dem er leben will. Necla ist Deutsche, aus der Türkei stammend, aber Deutsche, so, wie alle Amerikaner zuerst Amerikaner sind. Dieser freiwillige Rückzug schon in der Sprache ist feige und falsch.
DIE WELT: Sind wir besessen vom Islam?
Kelek: Der Islam ist eine Religion, für die Politik und Glaube eins ist, die als Kollektiv ihre Gläubigen kontrolliert, die Gesellschaft in Männer und Frauen trennt, weil sie davon ausgeht, dass nur Gottes Gesetze die Triebe in Schach halten können. Solche Auffassungen sind für eine moderne demokratische Gesellschaft ein Problem. Religionsfreiheit sagt ja nicht, dass Grundrechte von Menschen im Namen der Religion außer Kraft gesetzt werden dürfen. Aber diese Kulturdifferenz ist im Islam schwer zu vermitteln, denn der Islam ist keine theologische Einheit, sondern in sich widersprüchlich. Er ist ein Gespenst.
DIE WELT: Die Muslime, die nicht religiös leben wollen, leiden am meisten unter dem Zwang der Konformität. Die Debatte über die Rolle des Islam nützt auch den Muslimen, die sich aus diesem Zwang befreien wollen. Und vielleicht klärt sie auch die Frage, was Europa eigentlich ausmacht.
Maron: Wie weit der Islam unser Leben verändert hat, zeigt sich allein schon daran, dass wir andauernd über ihn reden müssen. Keine Religion beherrscht das öffentliche Gespräch so fordernd wie der Islam, was dazu führt, dass die Religion an sich wieder nach einer Bedeutung drängt, die sie seit Jahrzehnten verloren hatte. Mit der Berufung auf die Religionsfreiheit verändert der Islam unseren Alltag - vegetarisches Essen in Kindergärten und Schulen, Burkinis in Schwimmbädern, Moscheen auch da, wo kein Moslem wohnt und in einer Architektur, die keine Rücksicht auf das Stadtbild nimmt, ganz zu schweigen von einem Frauenbild, das wir zum Glück längst hinter uns hatten. Ich möchte von keiner Religion derart behelligt werden. Mir ist egal, wer was glaubt, aber er soll das tun, ohne mir ständig die Diskussion über seine Religion und zunehmend sogar deren Gebote aufzuzwingen. Ich fürchte, wir unterschätzen, dass wir es nicht nur mit den Muslimen zu tun haben, die bei uns leben, sondern eben auch mit dem globalen Anspruch des Islam.
DIE WELT: Sind wir illiberaler geworden in unseren Debatten?
Necla Kelek: Wenn man liest, wie mancher Kommentator in den "Leitmedien" auf Kritik am Islam reagiert, wenn, um das aktuellste Beispiel zu nennen, der FAZ-Feuilletonchef Patrick Bahners mich in den "Blättern für deutsche und internationale Politik" des "Fanatismus der Aufklärung" bezichtigt und Alice Schwarzer in der FAZ ein "jakobinisches Demokratieverständnis" unterstellt, dann erinnert mich das an eine urdeutsche Auseinandersetzung. Es erinnert an den "Fragmentenstreit" zwischen dem Aufklärer Gotthold Ephraim Lessing und dem lutherisch-orthodoxen Hamburger Hauptpastor Johann Melchior Goeze. Der hielt viel von "Verbalinspiration", das heißt der Irrtumslosigkeit der Schrift, wie es heute die Evangelikalen in Sachen Bibel oder die islamischen Fundamentalisten in Bezug auf den Koran tun. Bahners' Verteidigung des muslimischen Kopftuchs gegen den "Zwang zur Angleichung" von Mann und Frau wird in ähnlich inquisitorischem Ton wie bei Goeze vorgetragen. Hier schreit ein Autor offenbar nach einer religiösen Gesellschaft. Die Musliminnen sollen dafür den verschleierten Kopf hinhalten. Und damit ist er paradoxerweise bei Lessing, der sich in "Nathan der Weise" ja nicht, wie viele meinen, mit dem Islam, sondern mit der lutherischen Orthodoxie auseinandergesetzt hat. Illiberal ist diese Kontroverse nicht, denn ich halte die Angriffe und Zuschreibungen des Frankfurter Hauptpastors aus, wie er hoffentlich meine Artikel erträgt. Illiberal ist das Verhalten der Politik, die jemanden wie Thilo Sarrazin aus Amt und Partei zu drängen trachtet und gleichzeitig behauptet, es gäbe Meinungsfreiheit, weil er doch ungehindert seine Meinung sagen konnte.
Necla Kelek: Aber ich freue mich, dass wir über die Sache streiten. Ich hoffe auf die Lernfähigkeit der Politik und darauf, dass sie aufhört, Integrationsarbeit als einen Teil der Sozialhilfe zu definieren. Es geht nicht um "verstehen und helfen", sondern die Verantwortung des Einzelnen. Jeder muss Verantwortung für das eigene Leben übernehmen. Der Staat kann Ungerechtigkeiten ausgleichen, aber die "Alle können rein"-Politik der Grünen ist gescheitert und zum nicht geringen Teil Ursache für die Probleme, mit denen dieselben Politiker heute nicht zurechtkommen.
DIE WELT: Denk ich an Deutschland in ... 20 Jahren ... Aber bitte am Tage und nicht in der Nacht!
Monika Maron: Hamed Abdel Samad sagt in seinem neuen Buch den Untergang der islamischen Welt voraus - als "logische Konsequenz einer seit vielen Jahrzehnten verfehlten Identitäts- und Bildungspolitik sowie einer asymmetrischen Beziehung zum Westen, die auf Paranoia und Ressentiments basiert". Ich weiß nicht, wie lange Europa auf diesen Untergang warten kann und ob der Islam seinen religiösen und politischen Anspruch aufgibt, bevor die Muslime in Deutschland die Bevölkerungsmehrheit bilden. Es ist wohl vor allem ein demografisches, aber auch ein ökonomisches Problem. Ich bin Schriftstellerin und hoffe natürlich, dass die deutsche Literatur im Gedächtnis der deutschen Bevölkerung bleibt, wie immer sie sich zusammensetzt. Sehr optimistisch bin ich nicht.
Necla Kelek: Es ist ja nicht so, dass in der Geschichte immer die intelligenten Systeme die Oberhand behalten haben. Oft siegte der, der rücksichtsloser und brutaler war. Untergegangen sind diejenigen, die sich nicht Innovationen und Veränderungen geöffnet haben und keine Gegenwehr leisteten. Wir können für den Islam hoffen, dass er sich der gedanklichen Aufklärung öffnet, aber ein Automatismus ist das nicht. Denn was ist mit der Milliarde Muslime in aller Welt, werden die plötzlich zu Zweiflern? Genauso wenig kann der Westen darauf spekulieren, die Oberhand zu behalten. Wer seine Werte nicht verteidigt und gleichzeitig die Gesellschaft und Religion innovativ weiterentwickelt, den wird die Geschichte bestrafen.
Necla Kelek: Das erste Gespräch beider über Thilo Sarrazin erschien mit dem Titel "Nicht Sarrazin, sondern die Diskussion spaltet das Land" im Forum vom 2. September.

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